Große Resonanz zum 2. FASD-Fachtag am 15.3.2017

Der FASD-„Zug“ gewinnt an Fahrt – SPZs in der Region und Jugendhilfe sind zunehmend für FASD sensibilisiert

170 TeilnehmerInnen aus Jugendhilfe, Medizin/Therapie und Pflegestellen beschäftigten sich einen Tag lang mit der „Kunst, mit FASD zu leben“. Auf dem 2. FASD-Fachtag des Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD Köln wurden Kinder und Jugendliche mit fetalen Alkoholspektrumstörungen ebenso in den Blick genommen wie ihre Familien und alle Bezugspersonen aus dem Hilfesystem. Das Fazit des Tages lässt sich nach dem bekannten Sprichwort zusammenfassen: „Um ein Kind (mit FASD) zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Wobei das Dorf hier gleichbedeutend ist mit zugewandten Bezugspersonen aus dem familiären, sozialen, rechtlich-formalen, medizinisch-therapeutischen und pädagogischen Umfeld.

Welche Herausforderungen stellen sich bereits in der medizinischen Diagnostik von FASD und möglichen therapeutischen Maßnahmen? Wie gehen Pflege- und Adoptivfamilien mit dem herausfordernden Verhalten ihrer Kinder um? Wie kann Resilienz, das Reset-System unserer Seele, aktiviert werden, damit Ruhe und Gelassenheit als wichtige Zutaten auf der „Pflegefamilienpizza“ ihren festen Platz haben? Welche sozialrechtlichen Ansprüche können betroffene Pflege-/ Adoptivfamilien entlasten? Und last but not least: Wie können betroffene Kinder/Jugendliche und ihre Pflegefamilien durch das Hilfesystem, insbesondere durch die Jugendhilfe gefördert und unterstützt werden?

Abgerundet wurde dieser intensive Tag durch zwei junge Erwachsene mit FASD (21 und 27 Jahre alt), die aus ihrem Leben berichteten – unkompliziert, offen und sehr ermutigend. In beiden Biographien spiegelten sich die Themenbereiche des vorangegangenen Programms eindrücklich wieder. Beide haben nach einigen Hürden mit ihrer Diagnose FASD nun das passende Wohn- und Arbeitsumfeld gefunden und blicken positiv in die Zukunft.

Die Vorträge im Einzelnen

 1. FASD-Diagnostik ist Teamarbeit

Dr. Karin Hameister, Chefärztin des Sozialpädiatrischen Zentrums Königsborn in Unna, betonte, dass es bei der Diagnostik von FASD auf das gesamte interdisziplinäre Team eines SPZ ankommt. Denn die messbaren Auffälligkeiten wie Wachstum oder faciale Merkmale sind nur bei einem kleineren Teil der betroffenen Kinder mit Vollbild FAS vorhanden. Um neurologische Auffälligkeiten zu identifizieren und von anderen Störungen abzugrenzen sind verschiedene therapeutische Fachrichtungen und Psychologen notwendig.

Neben den medizinischen Grundlagen gab Dr. Hameister einen Ausblick in die Forschung: So kann bereits heute schon mit einer hohen Spezifität durch eine Mekoniumanalyse der Alkoholkonsum der Mutter festgestellt werden. An einem Bluttest wird weiterhin geforscht. Und bei Ratten konnten eine Stammzelltherapie das Neuronenwachstum in Gehirn so anregen, dass die Neuronendichte mit einem nicht-alkoholgeschädigten Gehirn vergleichbar wird.

„Diagnostik und Arzneimitteltherapie bei FASD“

2. Pflegekinderhilfe soll zukünftig betroffenen Familien mit FASD den Rücken freihalten

Andreas Sahnen, Sachgebietsleiter Pflegekinderdienst im Stadtjugendamt Düsseldorf, stellte exklusiv Auszüge der ersten Arbeitshilfe der Landesjugendämter NRW vor, an der auch das Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD Köln mitgewirkt hat.

Diese Arbeitshilfe wurde mit der Zielsetzung entwickelt, Pflegekinderdienste für FASD zu sensibilisieren, qualifizieren und eine fördernde fachliche Haltung zu implementieren. Denn neben einer frühzeitigen Diagnostik – möglichst schon in der familiären Bereitschaftspflege, um langwierige Fehlbehandlungen zu vermeiden – sollen Pflegefamilien durch Fachberater der Jugendhilfe qualifizierte Betreuung und Unterstützung erfahren, z.B. bei Gesprächen mit Kindergarten/ Schule oder durch individuelle begleitende Hilfen. Die Familien sollen nicht weiter im Fokus stehen, sondern Rückendeckung für den Alltag erhalten. Denn diese Pflegefamilien haben besondere Anforderungen zu meistern: die Betreuung eines Kindes/Jugendlichen mit FASD sei ein heilpädagogischer Auftrag, und sein Gelingen trage wesentlich zum Lebenserfolg bei.

Die Arbeitshilfe „Fetale Alkoholspektrumstörungen in der Praxis der Pflegekinderhilfe – Erste Arbeitshilfe der Landesjugendämter NRW für Fachkräfte der Pflegekinderdienste öffentlicher und freier Träger“ soll im Mai 2017 vom Landschaftsverband Rheinland veröffentlicht werden.

„Fetale Alkoholspektrumstörungen in der Praxis der Pflegekinderhilfe“

3. Pflege-/Adoptiveltern mit großem Engagement – Entlastung ist wichtig

Einen Einblick in den praktischen Alltag und Bewältigungsstrategien von Pflege- und Adoptivfamilien mit FASD lieferten die Ergebnisse einer qualitativen Studie von Elena Niesen, die sie im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Katholischen Fachhochschule Köln durchgeführt hat. StudienteilnehmerInnen waren u.a. auch Pflegeeltern des Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD Köln.

Die Studie bestätigte eindrücklich, dass betroffene Eltern hohes eigenes Engagement einbringen, in dem sie sich Fachwissen aneignen, Selbsthilfegruppen oder Arbeitskreise gründen und in ihrem Umfeld Aufklärungsarbeit leisten. Insgesamt hat der Austausch in sozialen Netzwerken und Gruppen einen hohen Stellenwert: zur eigenen Entlastung, um FASD als unsichtbare Behinderung besser zu verstehen und gemeinsam Handlungsstrategien zu entwickeln. Coaching, Beratung und Supervisionen werden von den Eltern ebenfalls in Anspruch genommen. Zur Entlastung der Familien werden Auszeit-Wochenenden gezielt genutzt, bei denen für Kinder/Jugendliche mit FASD eine qualifizierte Betreuung gewährleistet wird.

„Studie Pflege- und Adoptiveltern von Kindern mit FASD“

4. Die Bedeutung der Selbstfürsorge für ein gesundes Gleichgewicht

In seinem Sensibilisierungsvortrag berichtete Thomas Schwan, Training zu Zweit aus Kupferzell, von seinen persönlichen Erfahrungen als Pflegevater und der Diskrepanz zu seinen beruflichen Fähigkeiten des Motivierens, Organisierens und Strukturierens. Seine Pflegekinder haben sich einfach nicht an den erarbeiteten Plan gehalten, sondern ihre Seelenzustände gelebt auf der Suche nach neuer Sicherheit und Vertrauen. Trigger und Flashbacks der Kinder führten immer wieder zu misslungenen, eigentlich gut gemeinten Wohlfühlsituationen. Die Kinder trugen dafür keine Verantwortung, sie lebten ihre Traumata und konnten ihre Emotionen nicht steuern. Anschaulich beschreibt Thomas Schwan den Weg raus aus dem persönlichen Frust, enttäuschten Erwartungen und Versagensgefühlen. Mit externer Hilfe und dem Outing persönlicher Verzweiflung und Ängsten gelang der Zugang zur eigenen, von Natur aus gegebener Resilienz, einer latenten Fähigkeit zum eigenen Schutz und zur Selbstfürsorge. Und Garant für wiederkehrende Ruhe und Gelassenheit. Denn nur wer selbst wieder in Balance ist, kann Ruhe und Gelassenheit schenken.

Erfahrungsbericht „Plädoyer an die innere Stimme, den Schlüssel zur Resilienz“

Vortrag „Resilienz – gestärkt durchs Leben“

5. Pflegeversicherung ist nicht bedarfsdeckend, sondern „Teilkasko“

In ihren Ausführungen zum Sozialrecht gab Gila Schindler, Fachanwältin für Sozialrecht in Heidelberg, einen aktuellen Statusbericht zu den angestrebten Reformen in den Sozialgesetzbüchern der Kinder-/Jugendhilfe (SGB VIII), Sozialhilfe (SGB XII) und Pflegeversicherung (SGB XI).

Von den geplanten Reformen liefert die Pflegeversicherung eine greifbare Verbesserung für Pflegekinder mit FASD. So bietet das neue Pflegestärkungsgesetz II, das seit Januar 2017 gültig ist, mehr Möglichkeiten zur Entlastung der Familien. Denn die Einstufung in Pflegegrade orientiert sich nun an den Teilhabemöglichkeiten des Betroffenen und es ist davon auszugehen, dass mehr Kinder/Jugendliche mit FASD von der Pflegeversicherung unterstützt werden. Die Pflegeversicherung ist dabei aber nicht bedarfsdeckend und ähnelt eher einer Teilkasko-Lösung.

Eine Reform der Kinder- und Jugendhilfe mit einer inklusiven Lösung wird in dieser Legislaturperiode nicht mehr zustande kommen. Änderungen in der Sozialhilfe, insbesondere der Eingliederungshilfe mit dem Bundesteilhabegesetz (BTGH), werden zeitlich gestaffelt umgesetzt. Ziele der BTGH-Reform sind u.a. eine unabhängige Teilhabeberatung, eine individuellere Lebensplanung und Leistungen wie aus einer Hand.

Gila Schindler wies noch darauf hin, dass die Pflegeversicherung mit ihrer neuen Teilhabe-Ausrichtung an der Schnittstelle zur Kinder- und Jugendhilfe liegt. Dabei können Überschneidungen auftreten mit finanziellen Auswirkungen auf die Pflegefamilien. Welche dies sein können führt Gila Schindler in einem separaten Beitrag aus, der erschienen ist in der „Mittendrin 1/2017“, Zeitschrift des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder eV.

„Sozialrecht – Aktuelle Entwicklungen und praktische Hilfen“

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Info-Video

Warum Resilienz und Teilhabe für Kinder mit unsichtbaren Behinderungen und ihre Familien so wichtig sind.


Neues FASD-Forschungsprojekt

Begleitender Fachaustausch in der Fliedner Fachhochschule unter anderem mit dem Kölner FASD-Fachzentrum.


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