4. FASD-Fachtag vom 10. April 2019

Neue Einsichten mit spannenden Themen

Das Kind im Mittelpunkt: Verstehen – Übersetzen – Teilhabe fördern

200 Teilnehmende informierten sich auf dem ausgebuchten 4. FASD-Fachtag über Bekanntes, Neues und neu kombiniertes Wissen zu fetalen Alkoholspektrumstörungen. Ziel der Veranstaltung war es, die zentralen neurobiologischen Störungen bei FASD mit ihren Auswirkungen auf Selbstregulation, Denken und Handeln und Teilhabemöglichkeiten besser zu verstehen.

Ein besonderer Schlüssel für das Verständnis von FASD liegt in den alkoholbedingten neurobiologischen Störungen des Gehirns (geringere Anzahl an Neuronen), die u.a. zu Störungen der Konnektivität zwischen den Gehirnarealen („Netzwerkstörungen“) sowie diffusen Schädigungen des Gehirns führen – mit negativen Folgen für Wahrnehmung, Exekutiv- und Lernfunktionen. Störungen in deren Verarbeitung führen zu fehlerhaftem Verhalten in der Handlungsplanung, Impulskontrolle und kognitiven Fähigkeiten.

FASD und komorbide Störungen – eine zweite Diagnose ist möglich

In ihren Ausführungen zum Thema „FASD und komorbide Störungen“ zeigte Dr. Karin Hameister, Chefärztin im SPZ Lebenszentrum Königsborn in Unna, eindrücklich, dass die Kernproblematik des FASD in den Störungen des zentralen Nervensystems liegt. Folgen sind u.a. reduzierte Exekutivfunktionen, Aufmerksamkeitsprobleme und Hyperaktivität. Daher ist bei FASD häufig eine zweite Diagnose nötig für ein weiteres diagnostisch abgrenzbares Krankheitsbild oder Syndrom. So ist FASD beispielsweise mit ADHS zu 53%, mit oppositionellem Verhalten zu 13 % und mit Autismusspektrumstörungen zu 3 % „vergesellschaftet“. Insbesondere für die Betreuenden unter den TeilnehmerInnen war die Möglichkeit einer zusätzlichen zweiten Diagnose eine Entlastung. (warum eigentlich?) Bei komorbiden Störungen sind mitunter spezifische medikamentöse Behandlungsstrategien möglich, bei FASD fokussiert der Ansatz auf störungsbildbezogene (heil-/sonder-) pädagogische Förderung. Zum Vortrag

Das exekutive System arbeitet als Steuermann

Melanie Otto, ZNL Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen der Universität Ulm, praktizierte anschaulich in ihrem lebendigen Vortrag, welche komplexen Gehirnleistungen als Exekutivfunktionen zusammengefasst werden. So arrangierte sie ein Orchester der Kleintiere, bei dem die Teilnehmer im Kanon unterschiedliche und abwechselnde Töne mit kombinierten Bewegungen ausführen sollten. Eine herausforderndes Gehirntraining für alle Teilnehmenden! Mit dieser Selbsterfahrung wurde es nachvollziehbar, dass Störungen der Exekutivfunktionen, wie sie bei Menschen mit FASD vorliegen, zu verändertem Denken, Aufmerksamkeit, Verhalten und Emotionen führt. Leider steckt die Forschung, wie Exekutivfunktionen bei FASD gefördert werden können, noch in den Kinderschuhen. Einzig in Australien wurde in einer Studie gezeigt, dass Kinder mit FASD durch das Alert-Programm ihre Selbstregulation verbessern konnten.

Im nachfolgenden Workshop fokussierte Sabine Stein auf die Zusammenhänge von Wahrnehmung, Verhalten und den Exekutivfunktionen. So ist die Wahrnehmung die basale Gehirnfunktion und Ausgangspunkt von Entwicklung. Alle höheren Leistungen wie die Exekutivfunktionen bauen auf eine intakte Wahrnehmung auf. Ist jedoch – wie bei FASD – bereits die Wahrnehmung gestört, wirkt sich das auf die Exekutivfunktionen (Selbstregulation, Denken, Aufmerksamkeit, Gefühle, Verhalten) aus. Fehlinterpretationen von eingehenden Informationen wie z.B. fehlender Abgleich mit bisherigen Erfahrungen führen dann zu Überforderung, Frust und Stress.

Hilfeplanung im Kreisverkehr

Einen Umdenkprozess in der Hilfeplanung forderte Christiane Schute von der Fazit Jugendhilfe in Stuttgart. Die Hilfeplanung sei ziel- und zukunftsorientiert. Menschen mit FASD sind jedoch bedürfnisorientiert und leben im Hier und Jetzt. Abstraktion und Zukunftsplanung ist aufgrund ihrer Behinderung (Störungen der Exekutivfunktionen) nicht möglich. Für Menschen mit FASD sind stabile Beziehungen zu den Bezugspersonen, Wiederholungen und klare Alltagsstrukturen wesentliche Grundlagen einer gelingenden Hilfe.

Dadurch befindet sich die Hilfeplanung in einem Dilemma, da sich die Gewährung von Hilfen an den Zielen orientiert und hieran der Erfolg bemessen wird.

Mit dem Bild des „Kreisverkehr-Fahrens“ verdeutlichte Frau Schute ihren Ansatz: Bezugspersonen begleiten als Fahrlehrer in Dauerfahrt ihre Menschen mit FASD im Alltag. Sie akzeptieren, dass sich hinter der nächsten Kurve Aufgaben verbergen können, die vermeintlich längst verinnerlicht worden, jetzt aber nicht abrufbar sind – und so fahren sie geduldig zum alten Kreisverkehr zurück und trainieren wieder neu. Sackgassenfahrten sind ebenso möglich wie nötig, denn eigene Erfahrungen zu machen gehört dazu. Vielleicht eröffnen sich neue Straßen und Wege? Und sonst geht es wieder zurück zum Kreisverkehr.

An dieser Stelle noch einmal ganz herzlichen Dank an Frau Schute, die aufgrund einer kurzfristigen Erkrankung nicht selbst den Vortrag halten konnte, ihre Präsentation jedoch zur Verfügung stellte. So konnte Matthias Falke, Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD Köln, stellvertretend ihre Inhalte vortragen.

Das Bundesteilhabegesetz ist ohne Kinder gedacht

Mit dieser nüchternen Feststellung brachte Gila Schindler, Anwältin für Sozialrecht bei KASU Heidelberg, die Reformen des Bundesteilhabegesetzes auf den Punkt. Die Aufgabe der Eingliederungshilfe, eine volle wirksame und gleichberechtige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu fördern, könne nicht erfüllt werden, da diese nicht mit tatsächlichen „harten“ Rechtsansprüchen verknüpft ist. Auch die Zuständigkeiten in NRW von Jugend- und Sozialhilfe sind weiterhin ungeklärt (so gehören Pflegekinder in die Eingliederungshilfe der Landschaftsverbände), die individuelle Bedarfsermittlung ist von Sachverständigen zu begutachten – im Jugendamt oder in der Sozialhilfe? Die Fülle an Fragestellungen von Betreuenden zum BTHG versuchte Frau Schindler im anschließenden Workshop zu beantworten.

Landesbehindertenbeauftrage zum zweiten Mal Schirmherrin

Zum zweiten Mal Schirmherrin des FASD-Fachtages war Claudia Middendorf, Landesbehindertenbeauftragte in NRW. In ihrer Video-Zuschaltung berichtete sie über ihre bisherigen Aktivitäten, FASD als wichtiges Thema in die Landespolitik NRW zu bringen. Gespräche mit den Landschaftsverbänden, dem Aktionsbündnis und der Selbsthilfe in den Regionen haben ihr den Handlungsbedarf noch einmal zusätzlich verdeutlicht.

Das Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD Köln freut sich sehr, in der Landesbehindertenbeauftragten eine engagierte Unterstützerin bei FASD gefunden zu haben.

Weitere praxis-orientierte Workshop-Themen rundeten den FASD-Fachtag ab:

  • Als regionaler Netzwerkpartner stellte sich das SPZ Rhein-Erft, Dr. Polly Weiler, mit seinem multidiziplinären Ansatz vor, mit nachfolgendem intensiven fachlichen Austausch.
  • Die veränderte Wahrnehmung bei FASD als Bezugsperson wahrnehmen, verstehen und durch „Dolmetschen“ im sozialen Umfeld die Teilhabe fördern. (Susanne Falke, Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD)
  • Die berufliche Teilhabe mit ihren vielfältigen Möglichkeiten wurde am Beispiel einer beschützenden Werkstatt für Menschen mit Behinderung vorgestellt. „Wenn Beschäftigte zu spät kommen, ist es unsere Aufgabe herauszufinden, warum er zu spät kommt und wie wir helfen können. Als Angestellter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt’s vom Chef erst eine Abmahnung und dann die Kündigung,“ erklärte Frau Steinforth-Espelage von den Gemeinnützigen Werkstätten Köln, an einem einfachen Beispiel. Die Haltung und der Auftrag einer Werkstatt mache den Unterschied und biete durch das betreute Arbeiten einen schützenden Rahmen.

Zum Abschluss des Fachtages gaben zwei junge Frauen mit FASD berührende Einblicke, mit welchen Problemen sie im Alltag zu kämpfen haben und welche Unterstützung sie sich wünschen. „Mein Chef regt sich auf, weil ich es morgens nicht pünktlich zur Arbeit schaffe. Das macht mir Stress. Er könnte mich doch 20 Minuten vorher anrufen und sagen, dass ich mich jetzt auf den Weg machen soll.“

Programm FASD-Fachtag 2019

Für freuen uns auf einen weiteren fachlichen und regen Austausch beim nächsten FASD-Fachtag im Frühjahr 2020 !

Aktuelles

Fachtagung 16.-17. April 2024

Info-Video

Warum Resilienz und Teilhabe für Kinder mit unsichtbaren Behinderungen und ihre Familien so wichtig sind.


Neues FASD-Forschungsprojekt

Begleitender Fachaustausch in der Fliedner Fachhochschule unter anderem mit dem Kölner FASD-Fachzentrum.


Glücklich – die ‚leichte‘ Gesundheits-App

Die Glücklich-App der Lebenshilfe Hamburg bietet verhaltenstherapeutische Übungen in Leichter Sprache zur Verbesserung des Selbstwertes und der Reduktion depressiver Symptome.


„Einfach Mensch“ – ZDF-Portrait

Anna-Lena: Schaffe ich es auf den ersten Arbeitsmarkt?

Seit zwei Jahren mit Diagnose gewährt Anna-Lena Einblick in ihr Leben mit FASD.


Care Leaver Leipzig sucht bundesweite Vernetzung

Gruppe ehemaliger Pflegekinder trifft sich am 14. April online, Menschen mit FASD ausdrücklich willkommen.


Neue Fachberatung für inklusive Bildung

Die IHK Köln bietet und vermittelt Fachpraktikerausbildungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten.


„Chaos im Kopf – Dein FASD-Poscast“ – Neue Folge

Neurodeeskalation: Ein Schlüssel für Familien mit besonderen Herausforderungen

Von Wolfgang Werminghausen, sein Gast: Elke Strauch. In Kooperation mit dem Kölner FASD-Fachzentrum.


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